Ihr erinnert euch doch noch an Bello, mit dem ich ganz schöne Konflikte hatte. Mittlerweile haben wir viel gemeinsam unternommen und sind so was Ähnliches wie Freunde geworden.

Bellos Herrchen ist noch ziemlich jung, gerade mal 9 Jahre. Er heißt Pascal und besucht die Grundschule gleich nebenan.

Ständig hat er so ein kleines blaues Büchlein bei sich, um das er ein ganz schönes Geheimnis macht, weil er es von seiner Lieblingsnachbarin Frau Gersten geschenkt bekam. Gestern nun hat er es doch auf dem Spielplatz liegen gelassen, ich habe es mir gleich geschnappt und erst mal hinterm Schuppen versteckt.

Als endlich alle weg waren habe ich mir das Buch geholt und drin gelesen. Das hat mich alles so bewegt, so dass ich euch Teile davon einfach vorlesen muss.

… Hallo liebes Tagesbuch. Heute haben sich Mama und Papa wieder so sehr gestritten, dass ich es noch hören konnte, obwohl ich meine Ohren zugehalten habe. Papa hat gesagt, dass er jetzt eine neue Familie hat und weggehen will. Mama hat bloß geweint….

…Mama und ich leben jetzt allein. Mama kommt jetzt abends ganz schön spät nach Hause, weil sie so viel arbeiten muss. In der Klasse ärgern mich alle, weil wir jetzt nicht mehr so viel Geld haben und ich kein cooles Handy habe…

…Oh je, heute Abend gibt es Ärger: Ich habe mich heute geprügelt und dafür einen Klassenleitertadel erhalten. Aber ich lasse es mir nicht mehr gefallen, wenn andere mich provozieren, die sind selber schuld, wenn ich ihnen eine reinhaue…

…Heute musste ich sogar zum Direktor, denn ich habe heute vor Wut einfach um mich geschlagen, dabei ist ein Tisch im Klassenzimmer kaputt gegangen, den wir ersetzen müssen und Mama verdient doch nicht so viel. Papa brauch ich auch nicht zu fragen, der hat doch jetzt eine neue Familie…

…Heute war Mama in der Schule, weil meine Zensuren immer schlechter geworden sind und ich das Schuljahr vielleicht nicht schaffen werde, in Betragen stehe ich auch auf ner wackligen 4. Mama hat den ganzen Abend geweint…

….Mama hat sich heute mit Frau Gersten unterhalten. Die arbeitet in einer Einrichtung für Kinder, denen es ganz schön schwer fällt, mit ihren Problemen in der Schule, in der Familie oder mit Freunden zurecht zu kommen. Sie hat Mama und mich eingeladen, sie doch einmal in ihrer Einrichtung zu besuchen…

…Heute haben wir Frau Gersten auf Arbeit besucht. Mir hat es richtig gut gefallen. Die Kinder können hier ihre Hausaufgaben erledigen, haben immer jemanden, der ihnen zuhört, lernen das Zusammenhalten und üben, miteinander zu spielen ohne Streit und Gewalt. Frau Gersten empfahl Mama, doch einmal zum Jugendamt zu gehen und dort von ihren Sorgen zu berichten….

… Mama und ich waren jetzt schon ein paar Mal im Jugendamt. Beim ersten Mal waren wir sehr aufgeregt, weil wir dachten, alles falsch gemacht zu haben. Aber man hat Mama und mich verstanden und uns Hilfe zugesichert. Das Jugendamt hat mit meinen Lehrern gesprochen und sich lange im Team beraten. Man entschied sich dafür, mir einen Platz in einer Tagesgruppe zu bewilligen, zum Glück in der Einrichtung von Frau Gersten. Morgen geht es los…

…Hallo liebes Tagebuch, du hast jetzt lange nichts von mir gehört, aber das hat alles seinen Grund. Ich komme jetzt immer erst abends nach Hause, denn nach der Schule fahre ich erst einmal in die Tagesgruppe. In der letzten Mathearbeit hatte ich sogar eine 2 und ein Lob im Hausaufgabenheft gab es auch, weil ich sehr gut mitgemacht habe. Mama ist auch nicht mehr so traurig, sie braucht jetzt nicht mehr Angst vor einem Anruf aus der Schule haben, denn ich haue nicht mehr. Wenn Mama mal nicht mehr weiter weiß, kommt sie in die Tagesgruppe, dort unterhält sie sich mit Frau Gersten, dann machen wir gemeinsam Hausaufgaben oder spielen gemeinsam….

 

Ich hatte schon gemerkt, dass Pascal und Bello jetzt anders sind als früher, endlich weiß ich auch warum. Irgendwie muss ich ihm sein Tagebuch wieder zurückgeben. Ich könnte es ja einfach wieder auf den Spielplatz legen, aber nein: Ich bin stark und gebe es Pascal persönlich zurück.

Eigentlich toll, dass es Orte für Kinder mit Sorgen gibt und Erwachsene, welche neben den Eltern für sie da sind.

Es gibt auch Orte, wo die Kinder eine Zeitlang wohnen, um ihre Sorgen los zu werden. Aber davon berichte ich euch ein anderes Mal.

Eure Polly